Die innere Freiheit des Alterns by Riedel Ingrid
Autor:Riedel, Ingrid [Riedel, Ingrid]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Patmos
veröffentlicht: 2013-11-22T05:00:00+00:00
Im Schatzhaus der Menschheit einkehren
Habe die erste Lebenshälfte, so C. G. Jung, bei den meisten der Verwirklichung der menschlichen Natur gegolten, in ihren elementaren Bedürfnissen nach Beziehung, Familie und Beruf, so solle die zweite der Verwirklichung von Kultur dienen.89 In erster Linie meint er damit eine »Kultur der Seele«, eine Wendung des Blicks und der Aufmerksamkeit, die bei den meisten Menschen unserer Zeit primär der Außenwelt zugewandt ist, nach innen: »Die Ausschau muss zur Innenschau werden.«90 Bei diesem Perspektivwechsel hin zur Innenschau kann sich uns ein neuer Raum von unermesslicher Weite und Tiefe auftun: das »Schatzhaus der Menschheit«, wie Jung die Bilderwelt des kollektiven Unbewussten nennt, das sich uns durch die innere Kultur des Träumens und Imaginierens erschließt und sich in der äußeren Kultur der Menschheit manifestiert und niederschlägt.
Dass die Ausschau zur Innenschau werden soll, bedeutete ein neues Wahrnehmen der Innenwelt, zu der Gefühle und Empfindungen gehören, aber auch Ahnungen, Imaginationen und Träume, eigene schöpferische Impulse, aber auch eine Offenheit für das Schöpferische in der Kultur und das, was sie geschaffen hat. Ein Wahrnehmen und Ernstnehmen der Intuition, des Ahnungsvermögens auch, das uns schon immer eigen war, könnte hinzugehören. So schreibt Theodor Seifert im Alter, zusammen mit seiner Frau Ang-Lee, sowohl ein Buch über Intuition91 wie auch über Synchronizität92 .
Intuition wäre zum Beispiel, wenn wir mit Briefen, deren schwerwiegende Inhalte wir »intuitiv« schon ahnen, so umgingen, wie es der Ahnung entspricht, indem wir sie etwa erst in einer wirklich ruhigen Minute am Abend öffnen. Zur Intuition gehörte auch, bei einem Anruf zu erahnen, von wem er kommt, auch wenn man sich dessen noch nicht durch einen Blick auf die angezeigte Telefonnummer vergewissern konnte, und die man entsprechend annimmt oder auch nicht. Synchronizitäten wahrzunehmen gehörte zur Intuition, aber ebenso, auf Träume zu achten. Wenn zu Beginn einer schweren Auseinandersetzung mit einem Menschen zum Beispiel ein Todestraum erscheint, so konstelliert dies die ganze Konfrontation im Sinne von: »Das könnte einen umbringen!« – also zur Vorsicht, zur gesammelten Aufmerksamkeit.
Träume gar sollten als Wegweiser in eine neue Lebensphase, die vielleicht ansteht, ernst genommen werden. Der Traum eines Mannes zum Beispiel, seinerzeit in einem öffentlichen Amt, das er nun aus Altersgründen abgeben musste, zeigt an, dass auch für ihn die Wende zur Lebensphase der Kultur an der Zeit ist: Der Ingenieur, der in seiner Firma in leitender Position gewesen war, träumt jetzt, Ende sechzig, von einer geist- und temperamentvollen Frauengestalt, die schon oft während seiner Berufszeit vor dem Betriebsgebäude auf ihn gewartet hätte, in einer Kutsche mit ungeduldig scharrenden Pferden, und die er bei all der Hetze, in der er lebte, nie hatte wahrnehmen können. Erst jetzt kann er sie erkennen, überwindet seine lebenslange Scheu und erlebt mit dieser Traumfrau zusammen ungemein anregende, belebende Unternehmungen. Die Kutscherin führt in überall dorthin, wohin er sich sein Leben lang gesehnt, aber nicht immer getraut hatte: vom Tanzboden bis in Universitätsvorlesungen.
Mitten in der Resignation und einer gewissen Wehmut wegen der Ämter, die er abgeben muss, träumt er, dass – im Erotischen, Seelischen wie auch im intellektuell-kulturellen Bereich –
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